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Mittelstufenprojekt – Selbstreguliert zum Was und Wie

Im Jahrbuch 2012/13 beschrieben wir die praktisch-konkrete Konzeption des Projektes, die den Schwerpunkt auf eine Öffnung des Unterrichts, Projektarbeit, eine früher beginnende Berufsorientierung und eine stärkere Individualisierung legt. In diesem Jahrbuch soll die Beschreibung des pädagogischen Konzepts, der Theorie hinter dem Mittelstufenprojekt, im Vordergrund stehen.

Wir gehen in aller Kürze von einer ersten Prämisse aus:
Besonders seit der deutschen Wiedervereinigung scheint es zu einer stärkeren Demokratisierung der Gesellschaft gekommen zu sein. Bürgerinnen und Bürger wollen am politischen Prozess teilhaben, neue Partizipationsformen sind entstanden. Diese Entwicklung ist zu begrüßen und sollte nicht als wutbürgerliche, individualistische Ego-Gesellschaft diffamiert werden.

Die technischen Neuerungen unterstützen bzw. initiieren diese Entwicklung und rücken das Individuum aber auch die (eher) selbstbestimmte Vernetzung in den Vordergrund. Kinder und Jugendliche emanzipieren sich schneller von der Erwachsenenwelt und fordern vehementer Selbstbestimmungsräume ein, die sie im Internet selbstverständlich vorfinden. Die damit einhergehenden, vielleicht problematischen Entwicklungen der Pseudoindividualisierung zum Zwecke der Konsummaximierung, soll hier nur am Rande erwähnt werden.

Insgesamt kommt es zu einem sich beschleunigenden Wertewandel bzw. einer Wertepluralisierung, der die am Erziehungsprozess beteiligten Akteure häufig recht ratlos hinterlässt, wirken Werte doch gerade in diesem Bereich handlungsanleitend und stabilisierend.

Wie kann die Institution Schule auf diese Entwicklungen reagieren? Eine Institution, die hinsichtlich Ihrer strukturellen Gegebenheiten in Deutschland auf eine mindestens 180-jährige Geschichte zurückschaut. Innerhalb dieser Strukturen finden wir in der Regel eine Didaktik vor, die sich grob vereinfacht und verallgemeinernd in der praktischen Ausgestaltung dadurch charakterisieren lässt, dass der Lehrer Herr über das Geschehen, über den Lernprozess des Schülers ist. In den Grenzen des Bildungsplanes wählt der Lehrer das Was des Lernens, also die Bildungsinhalte, aus (Lerngegenstand). In einem didaktischen Planungsprozess wählt er nun die aus seiner Sicht für eine Klasse passende Methode aus. Er bestimmt also neben dem Was auch das Wie des Lernens. Dabei geht er in der Regel sehr gewissenhaft vor und bezieht in seine Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen Informationen über die Klasse ein. Er muss also z.B. die Entscheidung treffen, welche Methode für ca. 30 SuS am Mittwochmorgen in der Zeit von 9.00-11.00 Uhr die günstigste ist, damit die SuS das Lernziel der Stunde erreichen. Begleitet wird dies meist von der Haltung, dass Lernen ein planbarer, linearer Prozess ist. Verstärkt wird dies insgesamt durch eine Organisationsstruktur, die die Lehrkräfte zu Einzelkämpfern macht und ihnen wenig Spielraum für veränderte Handlungsweisen lässt.

Unsere zweite Prämisse lautet:
Lernen ist ein durch das Individuum (hier SuS) eigenständig erlebter und bestimmter, nicht linearer, sondern zirkulärer Aneignungsprozess. Dabei sollte das Individuum in hohem Maße über das Was und das Wie entscheiden (auch über das Wann, das Wo und das mit Wem).

In den folgenden Punkten wollen wir in sehr kurzer Form auf ein unseren Ansatz unterstützendes didaktisches Modell, den Didaktischen Tetraeder, eingehen, nach weiteren Gründen für eine von uns sogenannte partizipative Didaktik und Pädagogik fragen, einzelne unterstützende Bausteine des Mittelstufenprojektes vorstellen, in denen sich diese Didaktik und Pädagogik innerhalb des Mittelstufenprojektes zeigt und zum Abschluss ein kurzes Fazit nach drei Jahren gemeinsamer Arbeit ziehen. Dabei wird auch kurz auf die Evaluationsergebnisse zum Projekt eingegangen.

Ein Modell zur systemisch-konstruktivistischen Didaktik – der didaktische Tetraeder

Andere didaktische Modelle erscheinen uns als zu wenig komplex, um z.B. die Interaktion innerhalb des Lernkontextes abzubilden. Wir haben aus diesem Grund ein eigenes Modell entwickelt. Wir nennen dieses Modell den Didaktischen Tetraeder (Natürlich ist ein Modell lediglich eine grobe Vereinfachung der Realität):

Der Tetraeder basiert auf dem Didaktischen Dreieck (einem anderen didaktischen Modell), bringt die Interaktionen aber in eine Dreidimensionalität. Dazu eine kurze Erklärung:

Auch im Tetraeder finden wir den Lehrer, die SuS und den Lerngegenstand. Die durch den Tetraeder entstehende Dreidimensionalität soll den Selbstreflexionsprozess verdeutlichen, der für uns beim Lernen von entscheidender Bedeutung ist. Die Skala, die an allen drei Seiten zu finden ist, soll dabei für die Tiefe der Selbstreflexion stehen. Innerhalb dieses Prozesses können folgende Fragen für die SuS handlungsleitend sein:

Wie lerne ich am besten? Welche Methoden sind günstig für mich? Mit wem möchte ich lernen? Wofür brauche ich diese Person? Wofür brauche ich den Lehrer? Wie müsste dieser sein, dass ich davon profitieren würde? Wo möchte ich arbeiten? Wieviel Stille brauche ich beim Lernen? Was lenkt mich ab? Wofür lerne ich das? Warum finde ich das Thema spannend/nicht spannend? Wie könnte ich damit umgehen, wenn mich das Thema nicht interessiert? Wie gehe ich mit meinen inneren Widerständen um? Was möchte ich mit meinem Leben anfangen? Welchen Beruf möchte ich ergreifen? Wo liegen meine Interessen? Was interessiert mich nicht? Was möchte ich lernen?

Folgende Fragen könnten für den Lehrer handlungsleitend sein: Warum möchte ich in einem Lernkontext arbeiten? Wie stehe ich zu dem Schüler? Wie stehe ich zum Lerngegenstand? Warum habe ich dieses Thema ausgewählt? Wie kann ich am günstigsten arbeiten? Mit wem möchte ich arbeiten?

Folgende Fragen könnten hinsichtlich des Lerngegenstandes wichtig sein. Die Fragen sollen symbolisch für die Reflexion über den Lerngegenstand stehen. Sie werden von den SuS, vom Lehrer und gemeinsam an den Lerngegenstand gestellt: In welcher Verbindung steht der Lerngegenstand zu bisher Gelerntem? Wie wichtig ist er für das Thema/für mich? Was dachte ich mir bisher dazu? Wie habe ich bisher über das Thema gedacht? Gibt es Verbindungen zu meiner Biographie? Wie denkt mein Umfeld darüber? Warum könnte der Lerngegenstand wichtig/unwichtig für mein Umfeld sein? Unterstützt er meine Lebensperspektive?

Der innerhalb des Tetraeders entstehende Raum muss von den SuS und dem Lehrer gemeinsam definiert werden bzw. dies könnte eines der Ziele des Reflexionsprozesses sein. Er steht symbolisch dafür, wie sich Lehrer und SuS innerhalb des Lernprozesses begegnen, welche Rollen günstig erscheinen, welche Ziele wie festgelegt und erreicht werden können. Je nach Lehrer/SuS und Lebenssituation können aber phasenweise auch andere Themen im Fokus stehen, z. B. Ängste, Vertrauen/Misstrauen, Selbstbewusstsein usw. Was ist zur Rolle des Lehrers zu sagen: Entgegen der landläufigen Meinung, dass der Lehrer in offeneren Unterrichtskontexten unwichtiger und lediglich zum nicht klar definierten Lernbegleiter werden würde, wird die Rolle des Lehrers im hier dargestellten Modell aus unserer Sicht als wichtiger Akteur im Lernprozess gestärkt. Neben einem fundierten Fachwissen, einer Methodensicherheit, Flexibilität, Ausdauer und Durchhaltevermögen usw. müssen weitere Kompetenzen vorhanden sein, um den SuS adäquate Hilfestellungen anbieten zu können bzw. ein hilfreicher Gesprächspartner und Lernpartner zu sein. Dabei ist in erster Linie eine Fähigkeit zur Selbstreflexion verlangt. Nur dadurch kann sich eine Haltung entwickeln, die es dem Lehrer ermöglicht, dem Schüler und dem Lerngegenstand gegenüber in einer fragenden Haltung zu sein.

Kurze punktuelle Zusammenfassung:

Wichtig I: Keine Hypothesen über den Schüler. Fragen stellen. In der fragenden Haltung bleiben.

Wichtig II: Schüler dürfen „am Boden bleiben“. Der Selbstreflexionsprozess ist nicht Bedingung, sondern Ziel. Ergebnis eines Selbstreflexionsprozesses kann auch sein, dass sich SuS dafür entscheiden (erst einmal) „am Boden zu bleiben“, d.h., dass sie sich gegen einen Selbstreflexionsprozess entscheiden, geschlossenere Unterrichtsformen präferieren und damit häufig eher die Instruktion wünschen.

Gründe für eine partizipative Didaktik und Pädagogik

Neben den bereits oben erwähnten Gründen, die aus unserer Sicht für eine partizipative Pädagogik und Didaktik sprechen, sollen hier kurz weitere Gründe genannt werden. Resilienz: Der aus der Physik kommende Begriff spielt mittlerweile auch in der Pädagogik eine größere Rolle. Gemeint ist damit so viel wie innere Spannkraft, u.a. also die Fähigkeit, mit von außen kommenden Schwierigkeiten und Herausforderungen umzugehen.

Das Lebens- und Suchtpräventionsprogramm REBOUND, das an der Thadden-Schule im zweiten Halbjahr der Klasse 9 durchgeführt wird, geht von sieben Resilienzfaktoren aus: Reflexionsfähigkeit, die Fähigkeit, sich gute und gesicherte Informationen verschaffen zu können, die Fähigkeit, emotionale Impulse steuern zu können, eine Orientierung hinsichtlich der Lebensplanung zu erlangen, die Regie über das eigene Leben zu haben, sich ein günstiges soziales Umfeld aufzubauen und Menschen (Mentoren) im Leben zu finden, die einen wertschätzen und unterstützen.

Eine partizipative Didaktik und Pädagogik öffnet den Raum, um sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Sie negiert nicht die Wichtigkeit einer guten fachlichen Ausbildung (Fachkompetenzen), sondern erweitert die Möglichkeiten des Lernens im formalen Lernkontext. Ohne das Einbeziehen wichtiger persönlicher Lebensfragen ist ein auch fachliches Lernen kaum möglich bzw. bleibt immer unter seinen Möglichkeiten. Damit relativiert eine partizipative Didaktik und Pädagogik Fachkompetenzen hinsichtlich ihrer Wichtigkeit und Bedeutung für ein gesundes und glückliches Leben.

Neuere Ergebnisse aus der Lernforschung:

Lernen ist nicht linear machbar. Es scheint lediglich anregbar zu sein. Dabei lernt jeder nur für sich. Von außen zwar mit der Möglichkeit angestoßen zu werden, vollzieht das Subjekt seinen Lernprozess für sich selbst. Beim Lernen werden keine Bilder der Außenwelt aufgenommen und verinnerlicht, sondern durch diese Reize von außen wird subjektives Wissen gestaltet und eine eigene innere Wirklichkeit entsteht. Eine von den SuS als solche wahrgenommene positive Lehrer-Schüler-Beziehung scheint beim Lernprozess stark positive Effekte zu bewirken. Darüber hinaus wird besser behalten, was mit Interesse und Anteilnahme wahrgenommen wird, was mit bekanntem Wissen verglichen oder sinnvoll verknüpft werden kann und was wiederholt in möglichst verschiedenen Formen zur Kenntnis genommen wird.

Welche Bausteine des Mittelstufenprojektes unterstützen die dargestellte Didaktik und Pädagogik?

In diesem Teil soll in kurzer tabellarischer Form auf die hier dargestellte Didaktik und Pädagogik unterstützenden Elemente im Mittelstufenprojekt eingegangen werden. Daneben glauben wir aber, dass die unterschiedlichen Bausteine weitere Kompetenzen fördern können. Dies soll hier nicht näher beleuchtet werden.

Projektunterricht/Projektwochen, Freiarbeitsphasen/Arbeitsmappen, Prüfungsphasen, Lernrasterorientierung

Damit wollen wir im Besonderen den Raum für die Selbstreflexion der SuS erhöhen. Wenn wir davon ausgehen, dass Lernen ein höchst eigenständiger Aneignungsprozess ist, dann scheint es sinnvoll zu sein, Unterricht an vielen Stellen zu öffnen. Daneben stehen im geöffneten Unterricht andere Kompetenzen im Vordergrund.

Lehrer-Schüler-Beziehung (Mentorlehrerschaft, Planungsgespräche, Bilanz- und Zielgespräche)

Der Lehrer sollte ein Reflexionsvorbild sein. Es kann im Idealfall eine Unterstützung für die SuS sein, Fragen an sich selbst zu stellen. In diesem Fall wäre der Lehrer dann Lerncoach.

Lehrerteamarbeit

Für uns mittlerweile ein entscheidendes Element der eigenen Reflexion (auch Wertereflexion), Weiterbildung und Weiterentwicklung, gemeinsamer Unterrichtsvorbereitung

Wo stehen wir nach drei Jahren gemeinsamer Arbeit?

Auf der einen Seite haben wir Evaluationsergebnisse der durch das Institut für Bildungswissenschaft durchgeführten Evaluation. Auf der anderen Seite stehen die Erfahrungen und das Erleben des Lehrerteams.

Zu den Evaluationsergebnissen:

Die SuS im Projekt zeigen sich zufriedener mit der Schule und dem Unterricht als die Vergleichsgruppe (Parallelklassen). Unterrichtsstörungen kommen in beiden Gruppen gleich häufig vor.

Die Motivation ist bei den SuS des Mittelstufenprojektes höher, auch die Lehrer-Schüler-Beziehung wird positiver beurteilt.

Hier gleichen sich die Werte aber im Verlauf eher an. Das Belastungsempfinden wird von den SuS des Mittelstufenprojektes nahezu gleich beurteilt. Die kollegiale Zusammenarbeit zwischen den Lehrern ist höher. Sie wird aber in der Gruppe der nicht im Mittelstufenprojekt unterrichtenden Lehrer positiv eingeschätzt. Die Projektlehrer schätzen ihre Selbstwirksamkeit höher ein.

Die Eltern des Mittelstufenprojekts sind eher zufriedener mit der Situation an der Schule als die Eltern der Parallelklassen. Diese nimmt allerdings über die Jahre hinweg leicht ab.

„Gefühlte“ Ergebnisse der Mittelstufenprojekt-Lehrer:

Zufrieden macht uns die wesentlich engere Zusammenarbeit untereinander und mit den SuS. Hier ist das Selbstwirksamkeitserleben größer, den SuS etwas mit auf den Weg gegeben zu haben.

Entlastungseffekte entstehen durch die Absprache von Regeln in der Klasse, das Teilen von Organisations-aufgaben, dem Austausch über Werte und Normen in einem herausfordernden Beruf und den eigenen Möglichkeiten der Stundenplangestaltung.

Wir glauben, dass wir eine gute Grundlage geschaffen haben, um langfristig gemeinsam arbeiten zu können und um uns im Team in unserem Beruf weiterzuentwickeln.

Abschluss

Das Gymnasium steht bereits heute vor großen Herausforderungen (neben den bereits oben erwähnten Thesen). An dieser Stelle soll die größer werdende Heterogenität der Schülerschaft am Gymnasium und die technische Entwicklung im Bereich Lernen erwähnt werden.

Landesweit beträgt die Übergangsquote auf das Gymnasium ca. 50 %, in Städten wie Heidelberg liegt sie bei ca. 75 %. Wir haben es also nicht (mehr) mit einer homogenen Lerngruppe zu tun.

Die technischen Veränderungen ermöglichen es SuS sich Bildungsinhalte eigenständig zu erarbeiten. In der Regel so präsentiert, dass Schule kaum mithalten kann. Hier von schulischer Seite aus technisch mitzuhalten, sollte nicht im Fokus stehen. Um die Lernangebote herum ein Unterstützungs- und Begleitungsangebot aufzubauen, könnte ein sinnvollerer Weg sein, mit dieser Veränderung umzugehen.

All die hier dargestellten Aspekte verlangen aus unserer Sicht eine andere Haltung zum Lernen und zum Schüler. Diese Haltung muss sich organisationsstrukturell abbilden. Auch dafür wollen wir mit dem Mittelstufenprojekt eine erste Idee geben, wie eine solche Struktur aussehen könnte.