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Erinnern – ein Teil des Menschseins. Ausstellung „Gegen das Vergessen“ von Luigi Toscano im Thadden

Ausstellung allgemein

Seit 2014 trifft und porträtiert Luigi Toscani weltweit Überlebende der NS-Verfolgung. Mehr als 400 dieser Begegnungen gab es bereits in Deutschland, den USA, Österreich, der Ukraine, Russland, Israel, den Niederlanden und Weißrussland und auch jetzt – Mitte November 2023 – arbeitet Toscano weiter am Projekt, ist in die USA gereist, um weitere Überlebende zu treffen.

Nachdem die Ausstellung bereits weltweit gezeigt wurde, ist sie mittlerweile in etwas kleinerer Form zu Gast in den Schulen Baden-Württembergs, denn Luigi Toscano ist es ein Anliegen, dass sie direkt dort gezeigt werden, wo junge Menschen sind, wo Zukunft gestaltet wird.

Für Toscano ist es nicht nur ein weltweiter Erfolg, sondern ein Projekt geworden, dass immer größer und wichtiger geworden ist. Die Zunahme antisemitischer Übergriffe und auch Anschläge auf die Ausstellung machen ihm und uns deutlich, dass es wichtig ist, dass den Opfern des Holocausts ein Gesicht gegeben wird, damit sie in unserer Gegenwart präsent werden und uns darüber nachdenken lassen, wie wir in unserer Gesellschaft Freiheit und Menschlichkeit Raum geben können. Für diese Arbeit wurde Luigi Toscano 2021 von der UN als „Artist for Peace“ ausgezeichnet.

Neben der Homepage zur Ausstellung ist die preisgekrönte Dokumentation zur Ausstellung „Lest We Forget„, sehenswert.

Vorbereitung: Workshop mit den Scouts

Wie viele Schüler*innen sind wohl bereit neben dem Klassenarbeiten und Klausuren sich für einen Workshop und die Ausbildung zum Scout für eine Ausstellung Zeit zu nehmen? Und nicht nur das, alle Führungen durch die Ausstellungen sollten von eben diesen Schüler*innen durchgeführt werden! Es waren am Ende über 20 Schüler*innen, die sich dafür engagiert haben, geholfen haben dabei intensive Vorarbeiten der Geschichtslehrerin Friederike Schmid.

Dabei waren die Voraussetzungen für die Schüler*innen ganz unterschiedlich: für viele Portraits konnte man durch die Recherche im Workshop Informationen finden, zu manchen aber gar nichts und bei einem Portrait blieben wir leider erfolglos. Manche Informationen waren auf Deutsch, andere auf Hebräisch, Polnisch oder eben Englisch. Unterstützt wurden die Schüler*innen durch einen kleinen Input des Ausstellungsorganisators Max P. Martin, der uns auch schon ein Gefühl für Luigi Toscano vermitteln konnte, da er ihn intensiv begleitet und oft trifft.

Eröffnungen am 9.11. – Du bist ein Gott, der mich sieht

Bewusst haben wir den 9.11. als Tag der Eröffnung gewählt. Zu dieser waren am Morgen die rund 100 Schüler*innen der Religionskurse (Kursstufe 1) eingeladen, inhaltlich gestaltete der Leistungskurs Religion der Kursstufe 1 mit Schulpfarrerin Petra Erl den Morgen. Musikalisch bereichert wurde die Eröffnung in der Thadderia durch den Leistungskurs Musik mit Antje Roman und dem Chor „Salto Vocale“ mit Dieter Scheithe.

Deutlich wurde hier: hinter jedem Portrait steckt eine persönliche Geschichte, die gesehen werden soll. Dort wo Vorurteile und Klischeebilder wieder im Aufschwung sind, ist es wichtig hinzuschauen und dabei auch die Vergangenheit in den Blick zu nehmen, denn „das Vergessen der Vergangenheit ist gefährlich“, es wird dann möglich, dass „Vorurteile und Hass [wieder] Minderheiten bedrohen“. Besonders einprägsam formulierte dies Schüler Ali Izadi, für den das Vergessen uns blind macht, „für die Lektionen, die wir hätten lernen können“ – wenn Vergangenes nicht bewahrt werde, dann, so Izadi, „verlieren wir einen Teil unseres eigenen Menschseins“, so seine einleitenden Worte.

Für Schulpfarrerin Petra Erl bedeutet gesehen werden auch, dass Menschen in „persönlicher Not gesehen werden“ und sie bezieht die Ausstellung auf die Jahreslosung „Gott ist ein Gott, der mich sieht“, so mache die Ausstellung Menschen und ihre Geschichte sichtbar, denen größtes Leid angetan war – „Ob sie sich von Gott gesehen wussten und wissen?“ – eine offene Frage.

Am Abend wurde die Ausstellung in der vollbesetzten Kapelle eröffnet. Auch hier führten zunächst Schüler*innen (Amelie Wiebalck, Luis Mölber-Ramirez und Adrian Schweitzer) in die Ausstellung ein, danach gelang es der Musikfachschaft gemeinsam mit Irene Schubert und Florian Lepold durch das Stück „Schindlers Liste“ eine besonders eindrückliche Stimmung durch ihren musikalischen Beitrag zu erzeugen, bevor Petra Erl, ähnlich wie am Morgen, die Jahreslosung und die Ausstellung in Verbindung brachte. Im Anschluss betonte sie, dass „die Welt uns anvertraut ist und wir Menschen den Auftrag haben, sie zu bewahren und zu bebauen und die Nächstenliebe zu Leben“ und endete passend mit der Wunsch und der Forderung „mögen wir das nicht vergessen!“

Dann wurde die Ausstellung erstmals gezeigt und dabei einmalig auch beleuchtet. An jeder Station standen Scouts, die den Zuhörer*innen (Eltern, Ehemalige, Freunde der Schule und Wieblinger*innen) die Lebensgeschichten der gezeigten Menschen schilderten – für alle beteiligten ein eindrücklicher und nachdenklich machender Moment, für den Künstler Toscani, der an dem Abend uns ebenfalls besuchte, eine besonders „würdige Eröffnung“.

Führungen: von Schüler*innen für Schüler*innen

Nun begannen die Führungen. Meist in die Geschichtsstunden der jeweiligen Klassen besuchten alle Schüler*innen der Schule die Ausstellung. Dabei war es eine Herausforderung die Inhalte passend an die ganz unterschiedlichen Altersgruppen anzupassen. Bei den jüngeren Schüler*innen war es wichtig, Nationalsozialismus und Holocaust verständlich zu erklären, bei den älteren war bereits mit Vorwissen zu rechnen. Fast immer wurden die Führungen von Schüler*innen (nur bei den 5. Klassen übernahmen es Lehrkräfte) übernommen – ein Konzept, das aufging, die Schüler*innen haben dabei viel Verantwortung übernommen, sich eigenständig organisiert und die Botschaften der Portraitierten und des Künstlers weitervermittelt, organisiert und betreut wurden die Führungen vor allem von Geschichtslehrerin Mirjam Ruping.

Besuch Luigi Toscano

„Geweint und gelacht“ habe er bei den vielen Begegnungen mit den Holocaustüberlebenden. Schnell wurde deutlich, dass das Projekt „Gegen das Vergessen“ mittlerweile ein Teil seines Lebens geworden ist. Was einst in Mannheim begann, hat Luigi Toscano mittlerweile über 400 Begegnungen verschafft. Dabei war Toscano nicht nur in ganz unterschiedlichen Ländern, sondern hat vor allem ganz unterschiedliche Menschen getroffen. Manche ließen sich nur portraitieren und „wollten nichts erzählen“, andere Überlebende waren offen und erzählten gerne ihre Geschichte. Ganz nah ist Toscano Anna Strishkowa, die mit 2,5 Jahren aus Auschwitz-Birkenau befreit, anschließend von einer Familie in Kiew adoptiert wurde und in Kiew aufwuchs – ganz ohne Wissen über ihren Geburtstag, ihren Namen, ihre Herkunft. Gemeinsam mit seinem Team ist es Toscano gelungen, ihre Identität zu erarbeiten – eine neues Projekt war entstanden, der Dokumentarfilm „Anna“, der 2024 bei der Berlinale teilnimmt.

Es war ein lockerer, ein ehrlicher und authentischer Besuch vor rund 100 Schüler*innen im Alten Musiksaal. Gerade durch die Lockerheit gelang es Toscano die Schüler*innen zum Nachdenken zu bringen, zahlreiche Fragen der Schüler*innen – darunter alle Scouts – trugen zu einem gelungenen Gespräch bei. Die nötige Ernsthaftigkeit wurde durch klare Botschaften erreicht: Aufmerksamkeit und Verantwortungsübernahme sind wichtig, vor allem bei den jungen Menschen, die die Zukunft gestalten und Ausgrenzungen verhindern können – das im Angesicht des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland.

9. November – ein Schicksalstag der Deutschen

Ab dem 9.11. war es auch möglich die Ausstellung zum 9. November in der deutschen Geschichte im Foyer der Turnhalle 1 zu besuchen. Begleitet von Marina Egner und vor allem Eva Bernhardt, erstellten die Klassen 9a und 9b wissenschaftliche Plakate zu den verschiedenen Ereignissen der deutschen Geschichte an diesem Tag, darunter natürlich auch die Reichspogromnacht im Jahr 1938. Alle Plakate werden im Anschluss an die Ausstellung im Fachraum Geschichte einen Platz finden. Besonders wichtig und gut angenommen wurde die Möglichkeit sich selbst Gedanken über den 9. 11., Demokratie und Freiheit in Deutschland zu machen.

Volkstrauertag am 19.11.

Der Volkstrauertag ist ein staatlicher Gedenktag in Deutschland, an dem an Opfern von Gewalt und Krieg erinnert wird. In vielen Gemeinden und Stadtteilen beginnt das Gedenken an Denkmälern oder Friedhöfen, so auch in Wieblingen. In diesem Jahr bestand zusätzlich die Möglichkeit die Ausstellung „Gegen das Vergessen“ im Thaddenpark zu besuchen, wozu dann der Stadtteilverein Wieblingen eingeladen hatte. Rund 20 Wieblinger*innen waren der Einladung gefolgt und erfuhren von Schülerin Davita Bitzel Details zu ausgewählten Portraits. Auch hier bestand die Möglichkeit die Ausstellung zum 9.11. zu besuchen.

Was bleibt, wenn die Ausstellung Vergangenheit ist?

Vor allem bleibt für die Schulgemeinschaft das Bewusstsein, dass Schüler*innen der Thematik mit Ernst und Verantwortungsbewusstsein begegnen. Die Scouts haben die Geschichten nicht nur erzählt, sondern sich wohl meist mit „ihren“ Portraits verbunden gefühlt. In vielen Klassen wurde im Anschluss an die Führungen im Klassenverband über die Zukunft des Erinnerns, über die Aufrechterhaltung von Freiheit und Demokratie in unserer Gesellschaft diskutiert und manchmal auch gerungen. So bleibt für viele sicher mehr, als ein paar Schulstunden zum Holocaust. Die Portraits haben ihre ganz eigene und besondere Wirkung – das Engagement der Schüler*innen ihre Geschichte auch hörbar zu machen, war ein Erlebnis, das Hoffnung macht.

Danke an alle Schüler*innen, die recherchiert, Portraits vorgestellt und sich damit gegen das Vergessen und für eine Zukunft mit Freiheitsrechten für alle eingesetzt haben. Dank gilt auch der Musikfachschaft mit Florian Lepold und Irene Schubert, dem Leistungskurs Musik und dem Chor Salto Vocale – und – ein besonderer Dank an Petra Erl und ihren Leistungskurs Religion, die die Veranstaltungen inhaltlich gestaltet haben.

Für das Organisationsteam mit Eva Bernhardt, Friederike Schmid, Mirjam Ruping (vielen Dank auch euch!)

Jörg Wöhe